Wer Großes geplant hat, muss oft auch mal umplanen- am Weg nach Zermatt
Es ist 6:45 Uhr. Während die letzten schwarzen Wolken über Prad abziehen, mache ich mich auf den Weg in die angrenzende Schweiz. Der Ofenpass liegt vor mir. Den kenne ich zum Teil schon von einer sommerlichen Alpenüberquerung mit meiner Frau.
Frischer Wind kommt aus der charakterbildenden Richtung. Heute steht ein reiner Rad- und Gepäcktransfertag an: 67 Kilometer und 1.500 Höhenmeter sind sportlich, aber ich habe bis 13:45 Uhr Zeit, um in Zernez meinen Zug nach Zermatt zu erreichen.
Material, Kleidung und Taschen- abgespeckt auf 22 kg
Der Wind putzt die letzten Wolken weg, während ich die Grenze zur Schweiz überquere. Ein schlichter Wink und anders als bei den übertriebenen Grenzkontrollen am Walserberg fühle ich mich heute als alpenüberquerender Europäer und nicht als Pfand kleingeistiger Gebietsverwalter dies- und jenseits des Inns!
Bei der Grenzkontrolle zeigt sich auch ein weiterer Vorteil daran, mit dem Rad unterwegs zu sein. Die übliche Frage nach „Mitreisenden“ drängt sich gerade nicht auf, obwohl ich – gut sichtbar – ziemlich was schleppe.
In der Schweiz angekommen: Es wird sauber und teuer.
Es geht voran und ich erreiche bald Santa Maria mit dem festen Vorsatz im Hinterkopf, hier mein erstes Rivella zu zischen.
Verdünntes Rivella ist mein Radgetränk schlechthin – es schmeckt nach Schweizer Passstraßen!
9: Uhr. In der kleinen Dorfbäckerei sitzen alle an einem großen Tisch. Zeit für mich, ein kleines Frühstück einzunehmen. Mit einigen Lastwagenfahrern entflammt eine Diskussion über das Radfahren auf der Straße. Schließlich einigen wir uns darauf, dass ich zwar ein Hindernis bin, aber zumindest ein lässigeres Ziel vor Augen habe. Danke, ich werde versuchen, mich rechts zu halten! Dabei fahren die anwesenden Trucker mit ihren tonnenschweren Riesen sowieso in die andere Richtung.
Legales Doping mit Rivella und Powerbars
Bei idealem Radwetter geht es bergauf. Links und rechts der Straße lockt noch das eine oder andere Skitourenziel. Einer meiner Bergpartner hat mir begeistert von den tollen Möglichkeiten im Val Müstair erzählt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Am Weg durchs Val Müstair: Wäre verlockend einen der Berge zu besteigen- aber nicht heute.
Relativ schnell bin ich in den letzten Kehren am Ofenpass auf 2.149 Metern angelangt.
Es folgt eine rasante Abfahrt Richtung Transferpunkt nach Livigno, den ich heute links liegen lasse, und stattdessen die letzte Steigung nach Zernez hinter mich bringe.
Heute werde ich mit einer entspannten Fahrt und nur wenigen starken Steigungen in wunderbarer Landschaft verwöhnt. Danke dafür, Schwyz!
Das Mittagessen in Zernez ist ein erster Anschlag auf meine Geldtasche. Olivenöl und Parmesan müssen als Sättigungsbeilage XXL reichen. Der Preis des Zugtickets inklusive Fahrradtageskarte nach Zermatt lässt mich kurz mit einer Fahrt aus eigener Kraft liebäugeln – das geht sich aber bei bestem Willen zeit- und kraftmäßig nicht aus.
Eine wirklich außergewöhnliche Fahrt mit der SBB beginnt: ZugbegleiterInnen, die sich freundlich um meine Anschlusszeiten kümmern, Lokführer, die mir beim Ein- und Aussteigen behilflich sind. So ein First-Class-Service zum Vollpreis kann zwar die Ticketkosten niemals rechtfertigen, aber zumindest kurz vergessen lassen. Die Schweizer sind eine Halbtax-Nation, ohne die Ermäßigungskarte geht es nicht.
In Visp steigen dann unverkennbar die ersten Aspiranten der Patrouille de Glacier ein.
Hagere Gestalten, die mein Setup taxieren und mir zu erkennen geben, dass ich da wohl nicht dazu gehören werde.
Richtig erkannt, Leute, ich hab‘s nicht so mit dem militärischen Bergsteigen. Aber in den nächsten beiden Tagen wird das auf kuriose Weise noch ein Thema sein.
Zermatt ist neben Chamonix und Kals die Wiege meiner Profession. Hierher zu kommen ist auch immer eine Reise in die Vergangenheit. Egal, wie viele Events und Besonderheiten sich die lokalen Tourismusmanager einfallen lassen: Am Ende des Tages leben hier alle vom Matterhorn, seinem Mythos und den Geschichten, die sich seit Whympers Erstbesteigung natürlich auch bestens vermarkten lassen.
Zermatt punktet zudem mit zukunftsweisenden Verkehrskonzepten. Die Regeln sind für alle gleich (umweltfreundlich). Der Bugatti steht neben dem Dacia am Bahnhof in Täsch, denn von dort gibt es neben dem Rad nur zwei Verkehrsmittel für Touristen nach Zermatt: den Zug und den Helikopter. Ich nehme das Rad und gehe davon aus, dass ich für die Rückfahrt die zweite Möglichkeit vermeiden werde.
Zermatt: Ankunft am Bahnhof
Im Hotel angekommen muss ich leider feststellen, dass mein aus Ottensheim (klimaneutral) versendetes Wäsche- und Nahrungspaket noch nicht angekommen ist. Die freundliche Dame an der Rezeption verweist mich an die Post.
Böse Zungen unter den Kollegen sagen, man solle in Zermatt keine Pauschalen anbieten, denn die Nebenkosten sind enorm. Dem ist nichts hinzuzufügen. Normalerweise plane ich meine Anreisen nach Zermatt so, dass meine erste Nacht entweder in Herbriggen bei der legendären Rosi im Hotel verbringe oder bereits auf einer der Hütten. Heute leiste ich mir ein Einzelzimmer mit drei Sternen mitten in Zermatt. Damit sind zehn Prozent meiner Reisekasse ausgegeben. Ich gehe bald zu Bett, um zumindest ein gutes Preis- Nutzungs-Verhältnis zu erzielen.
Tagesfazit: Start 6:45 Uhr, Rad nach Zernez, Zug nach Zermatt Ankunft: 17:5
Höhenmeter #auseigenerkraft: 1.485 HM, Wegstrecke #auseigenerkraft: 57,54 km
Tag 6: 26.4.2022. Die hohen Berge kommen näher: Monte Rosa/Dufourspitze 4.634 m
Es kommt wie angekündigt: Bestwetter und freier Blick aufs Matterhorn. Meine Motivation steigt, denn die Bilder der umliegenden Webcams versprechen nur Gutes. Breithorn, Castor, Pollux und Lyskamm sind völlig wolkenfrei. Aber statt Spaghettirunde gibt es morgen feines Skibergsteigen auf den zweithöchsten Berg der Alpen.
Spätstart-Bergführertage beginnen an den besten Plätzen der jeweiligen Ausgangpunkte – in den wirklich guten Kaffeehäusern im Tal. Egal ob im Elevation 1904 in Chamonix, im Café Sailer in St. Anton, im Verweilzeit in der Ramsau oder eben in der Brown Cow in Zermatt, das scheint ungeschriebenes Gesetz zu sein. Hier trifft man immer KollegInnen, kann Verhältnisse abchecken und Allfälliges besprechen.
Mein Capucco ist schon fast ausgetrunken, als ich meine Zustiegspläne nochmal komplett ändern muss.
Die Bergbahnen von Zermatt sind heute leider geschlossen.
Ich kann daher nicht wie geplant übers Stockhorn runterfahren, sondern muss mit dem Gornergrat über den etwas mühsamen Sommerweg Richtung Hütte ab- und dann aufsteigen. Die Alternative über den Gornergletscher fällt ohnehin aus. Der ist für mich alleine nicht begehbar – wenig Schnee und ziemlich zerklüftet.
Am Weg zur Gornergratbahn Richtung Monte Rosa Hütte
Also Gornergrat. Auch okay. Heute wird es ein gemütlicher Tag, fast ein Rasttag, denn selbst im schlimmsten Fall rechne ich mit nur maximal drei Stunden Aufstieg. Den Weg zur Hütte kenne ich gut und ich weiß: Selbst bei den skifeindlichsten Bedingungen bin ich am frühen Nachmittag oben auf der Sonnenterasse.
Die Fahrt mit der Gornergratbahn kostet mit Bergführerermäßigung einen Franken pro Minute. Ein angemessener Preis für das Panorama: hinten Matterhorn und vorne Monte Rosa.
Japanische TouristInnen tik-token sich nach oben, es laufen diverse Livereportagen und wir finden uns alle in einer herrlichen Aquarium-Situation wieder. Bis zur Station Roter Boden wird nicht ganz klar, wer rein- und wer rausschaut.
Fahrt Richtung Gornergrat
Am Roten Boden eröffnet sich eines der besten Bergpanoramen in den Alpen. Beginnend über dem Gornergletscher fädeln sich ein gutes Dutzend 4.000er auf. Die gewaltigen Abbrüche und Wandfluchten glänzen verdächtig eisig. Das wird morgen nicht ganz einfach werden.
Blick auf dem Lyskamm: eindrückliches Ambiente am Gornergletscher
Ich teile den Blick mit ein paar Schienenarbeitern, die sich mit der Aussichtsbank keinen besseren Jausenplatz wünschen können. Der trockene Waliser Humor kommt mir sehr entgegen und wir blödeln eine Weile über die perfekten Verhältnisse zum Skiherumtragen in der Gegend. Sie raten mir noch, am Fuße des Gornergletschers meine Ski quer am Rucksack zu montieren, damit der Spaltensturz nicht zu weit nach unten geht. Danke Freunde, ich werde es mir merken!
Könnte nicht besser sein: Jause am Panoramaplatzerl
Schnell komme ich bis zur Leiter vom Sommerweg und muss erkennen, dass mein Weiterweg so nicht funktionieren wird. In einem Artikel las ich mal, dass in der Schweiz auf Grund der Gletscherschmelze rund 180 neue Seen entstanden sind, die noch keinen Namen haben und teilweise nicht kartografiert sind – unter mir ist einer davon.
Diverse alte Spuren führen zu kleinen Übergängen und Inseln, die vielleicht gestern noch passierbar waren – heute leider nicht mehr, was mir eine Bonusrunde Richtung Tal abverlangt.
Auf der Suche- take the long way!
Mein GPS-Track schaut eher nach einer Suchaktion aus.
Denn zwischen altem Weg und neuem Sommerweg gibt es Interpretationsspielraum für den weiteren Aufstieg. Es dauert, einen gehbaren Weg zu finden, aber drei Stunden später stehe ich am Gletscher und freu mich fast über den lästigen Faulschnee Richtung Hütte.
Endlich Skibergsteigen ohne schwere Beine und Zeitdruck. Die 400 HM zur Hütte sind für mich heute ein richtiger Genuss und ich freue mich riesig über die Möglichkeit hier zu sein.
Die Monte Rosa Hütte in der Sonne: Zeit für einen Kaffee
Die neue Monte Rosa Hütte mit einer der besten Sonnenterassen der Westalpen erwartet mich.
Oben angekommen gönne ich mir einen Kaffee – und richtig: ein Rivella!
Zufällig treffe ich im Bergführerzimmer einen deutschen Kollegen, der als Bundeswehrbergführer mit einem Aspiranten auf Ausbildungstagen unterwegs ist. Heute versuchten die beiden, die Dufourspitze zu ersteigen. Bei unangenehmen Bedingungen mussten sie beim Skidepot abbrechen und abfahren. Auch bei den Alternativen sieht es schlecht aus: Die Route über den Silbersattel ist wegen einer übergroßen Randspalte nicht gut möglich. Die Route über den Westgrat ist äußerst blank und in den letzten Tagen nicht begangen worden.
Der Kollege und ich vereinbaren für den nächsten Tag einen gemeinsamen Aufstieg. Guter Plan – zumindest bin ich nicht alleine. Mit einer fitten Schweizer Damenseilschaft steht außerdem eine weitere Partie an, die sich morgen am Dufourspitz versuchen wird.
Den Abend verbringe ich mit Umorganisieren. Der Wetterbericht für Chamonix bringt meinen Plan durcheinander, am Samstag und Sonntag nach einer Akklimatisationstour auf den Gran Paradiso den Mont Blanc zu besteigen. Da ich mit drei Gästen unterwegs sein werde, muss ich spätestens heute eine Entscheidung treffen. Unsere Gipfelchancen mit den ohnehin eingeschränkten Möglichkeiten am Mont Blanc sind, so wie es aussieht, nur am Freitag intakt. Demnach ist alles zu reorganisieren: Hütten neu buchen, den zweiten Bergführer neu einteilen und vor allem mit den Gästen besprechen, ob sie nach der langen Fahrt überhaupt in der Lage sind, gleich aufzusteigen.
Für mich bedeutet diese Änderung außerdem, mein #greatescape-Vorhaben komplett zu verändern, denn nach der Mont-Blanc-Skibesteigung komme ich nur mehr mit den Gästen im Auto auf die andere Seite des Berges. Mein Zeitbudget ist begrenzt (danke an dieser Stelle für das Verständnis meiner Familie), daher kann ich den Gran Paradiso nur besteigen, wenn ich Verkehrsmittel verwende, deren Abgase hinten rausrauchen.
Die letzte Hoffnung liegt in einem Alternativplan, nämlich mit dem Fahrrad über die Aiguille-du- Midi-Bahn Richtung Courmayeur zu fahren. Der Seilbahnbetreiber findet das allerdings zu bizarr und erteilt dem eine Absage. Bien!
#thegreatescape wird also am Mont Blanc enden und die Besteigung des Gran Paradiso mit den Gästen danach stattfinden müssen. Schade, aber Regel ist Regel!
Um 21:00 Uhr ist alles gecheckt. Hinter dem Matterhorn geht die Sonne unter und meine Vorfreude auf. Ich bin bereit für die kommenden Bergtage!
Tagesfazit: Start 11:45 Uhr, Fahrt zum Roten Boden mit Bahn, Aufstieg zur Monte Rosa Hütte, Ende 16:14 Uhr Höhenmeter #auseigenerkraft: 579 HM, Wegstrecke #auseigenerkraft: 10,79 km
Im nächsten Kapitel:
Dufourspitze – rassiges Skibergsteigen bei bestem Wetter oder der längste Tag des Jahres